Zwischen Negativity Bias und Toxic Positivity: Wie du als Führungskraft die Balance hältst
- Larissa Carlsen

- vor 6 Tagen
- 7 Min. Lesezeit
Im Team läuft vieles gut und doch konzentriert sich die Aufmerksamkeit oft auf das, was nicht funktioniert. Oder es heißt: „Alles super!“, obwohl Spannungen spürbar sind. Beides ist menschlich und beides hemmt Lernen, Qualität und psychologische Sicherheit. In diesem Artikel bekommst du einen klaren Blick auf Negativity Bias (warum unser Gehirn Negatives überbewertet) und Toxic Positivity (wenn „positiv bleiben“ ehrliche Auseinandersetzung verhindert). Du erfährst, wie du als Führungskraft und Team bewusst gegensteuerst, Erfolge sichtbar machst und eine Kultur etablierst, in der Realismus, Emotionen und Zuversicht ihren Platz haben.
Der Negativity Bias: Warum unser Gehirn das Schlechte bevorzugt

Unser Gehirn ist ein Meister darin, Gefahren zu erkennen, aber kein besonders guter Chronist des Positiven. Diese Asymmetrie wird in der Psychologie als Negativity Bias bezeichnet. Sie beschreibt die Tendenz, negative Eindrücke, Emotionen oder Ereignisse stärker wahrzunehmen, intensiver zu verarbeiten und länger zu erinnern als positive.
Aus evolutionsbiologischer Sicht war diese Verzerrung überlebenswichtig. Wer in der Steinzeit eher auf das Rascheln im Gebüsch reagierte als auf den Sonnenuntergang, hatte schlicht bessere Überlebenschancen. Unser Gehirn ist also darauf trainiert, Gefahren zu priorisieren, nicht Glücksmomente.
Die moderne Psychologie beschreibt das genauer:
Daniel Kahneman unterschied in seinem Modell von System 1 und System 2 zwischen schnellem, intuitivem Denken und langsamer, reflektierter Verarbeitung. Der Negativity Bias wirkt besonders stark im schnellen Denken. Dort, wo Emotionen und Automatismen dominieren. Eine negative Information löst sofort eine Alarmreaktion aus. Das langsame Denken, das erst später rational einordnet, hat oft Mühe, diesen ersten Impuls zu korrigieren.
Neurobiologisch ist bekannt, dass negative Reize eine stärkere Aktivierung in der Amygdala auslösen, dem Teil des Gehirns, der Bedrohungen bewertet und emotionale Erinnerungen speichert. Das führt dazu, dass eine einzige kritische Bemerkung ein ganzes positives Feedback überlagern kann.
Zeitliche Verzerrung: Wir bewerten die Gegenwart oft höher als die Zukunft („present bias“). Ein aktueller Misserfolg fühlt sich deshalb gravierender an als ein langfristiger Erfolg. Teams neigen dazu, kurzfristige Rückschläge überzubewerten, auch wenn sie langfristig kaum Relevanz haben.
Im Alltag von Teams zeigt sich der Negativity Bias subtil, aber konstant.
In Retrospektiven wird häufig zuerst über das gesprochen, was nicht funktioniert hat.
Eine einzelne kritische Rückmeldung prägt stärker als zehn positive.
Führungskräfte schenken Defiziten mehr Aufmerksamkeit als Stärken. Oft ohne es zu merken.
Diese Dynamik bleibt nicht ohne Folgen: Mit der Zeit sinkt die Stimmung, Motivation und Energie im Team. Gespräche wirken schwerer, kreative Impulse nehmen ab, und der Fokus verengt sich zunehmend auf das, was fehlt oder schiefläuft.
Selbst kleine Fortschritte oder Erfolge werden weniger wahrgenommen, weil sie im Schatten des Negativen stehen. So entsteht schleichend eine Atmosphäre, in der Anstrengung kaum gewürdigt wird, ein Nährboden für Frustration und innere Kündigung.
Warum Bewusstsein der erste Schritt ist
Wer den Negativity Bias kennt, erkennt, dass vermeintliche „Realisten“ oft nur einem automatischen Muster folgen. Bewusstheit schafft Handlungsspielraum. Erst wenn Teams verstehen, dass ihre Wahrnehmung von Problemen überproportional ist, können sie lernen, Gegenkräfte zu aktivieren, etwa durch lösungsorientierte Fragen, strukturierte Reflexionsmethoden oder das bewusste Sichtbarmachen von Fortschritten.
Wie du dem Negativity Bias bewusst gegensteuerst
Den Negativity Bias kannst du nicht einfach „abschalten“. Er ist tief in unseren kognitiven Prozessen verankert. Aber du kannst lernen, bewusst gegenzusteuern. Durch Haltung, Sprache und strukturierte Routinen, die die Aufmerksamkeit gezielt umlenken.
Es geht nicht darum, Negatives zu verdrängen, sondern das Wahrnehmungsgleichgewicht wiederherzustellen: Probleme zu erkennen, ohne im Problemfokus zu verharren und Fortschritte sichtbar zu machen, ohne in Schönfärberei zu verfallen.
Der wichtigste Hebel ist das Bewusstwerden. In Teams lohnt es sich, regelmäßig darüber zu sprechen, wie Wahrnehmung funktioniert. Schon die einfache Erkenntnis „Unser Gehirn merkt sich Kritik stärker als Lob“ kann Diskussionen erden und Selbstreflexion fördern.
Praktisch kann das heißen:
Explizit machen, was gut läuft. Jede Teamreflexion beginnt mit der Frage: „Was hat uns in den letzten Wochen gestärkt oder gut funktioniert?“
Rückmeldungen kontextualisieren. Wenn du Kritik gibst, setze sie bewusst ins Verhältnis zum Gesamtbild. („Insgesamt ist der Prozess auf gutem Weg, aber hier sollten wir nachjustieren.“)
Metareflexion einbauen. Sprich als Führungskraft das Muster direkt an: „Ich habe das Gefühl, wir reden heute vor allem über Probleme, was lief denn eigentlich gut?“
Diese kleine Intervention bringt oft eine spürbare Entlastung und lenkt den Blick auf Ressourcen statt auf Defizite.
Sprache lenkt Wahrnehmung
Sprache prägt Denken und damit auch Teamdynamik. Wer Begriffe wie „Fehler“, „Scheitern“ oder „Problem“ zu häufig verwendet, aktiviert automatisch den Negativfilter. Eine bewusst gewählte Sprache kann dagegen Öffnung und Lernorientierung fördern.
Beispiele für sprachliche Reframing-Impulse:

Dieser Perspektivwechsel wirkt subtil, aber nachhaltig. Er verändert, wie Gespräche klingen und wie sich Teams fühlen.
Erfolge sichtbar machen

Ein wirksames Gegengewicht zum Negativity Bias ist die bewusste Wahrnehmung von Fortschritt. Studien zeigen: Der wichtigste Motivator im Arbeitskontext ist nicht Anerkennung im klassischen Sinn, sondern das Gefühl, etwas zu bewegen.
Deshalb: Routinen etablieren, die Positives sichtbar machen.
Zum Beispiel ein kurzer Wochenabschluss mit der Frage: „Was hat diese Woche gut funktioniert und warum?“
Mini-Retrospektiven nach Projekten: Nicht nur Lessons Learned zu Fehlern, sondern auch: „Was hat uns als Team stärker gemacht?“
Anerkennung normalisieren. Wertschätzung sollte nicht als Ausnahme, sondern als selbstverständlicher Bestandteil von Zusammenarbeit erlebt werden.
Diese Rituale sind keine „Wohlfühlübungen“. Sie wirken direkt gegen die kognitive Verzerrung, weil sie dem Gehirn helfen, positive Eindrücke bewusster zu speichern.
Balance statt Schönfärberei
Wichtig ist: Gegensteuern bedeutet nicht, das Negative zu vermeiden.
Eine gesunde Teamkultur entsteht erst, wenn Probleme benannt und Erfolge gewürdigt werden, beides gehört zusammen.
Wenn du als Führungskraft beides sichtbar machst, signalisierst du:
„Wir dürfen über Schwierigkeiten sprechen, ohne dass das Positive verloren geht und wir dürfen uns über Erfolge freuen, ohne die Herausforderungen zu verdrängen.“
Diese Balance stärkt Vertrauen, Lernfähigkeit und psychologische Sicherheit, das Fundament für jede nachhaltige Entwicklung.
Doch was passiert, wenn dieses Gegensteuern übertrieben wird?Manchmal kippt gut gemeinte Positivität in etwas, das weniger hilfreich ist, nämlich in Toxic Positivity. Im Folgenden schauen wir uns an, was dahintersteckt und wie du erkennst, wann „positiv bleiben“ zur Falle wird.
Toxic Positivity: Wenn positives Denken kippt
Während der Negativity Bias dazu führt, dass wir Negatives überbewerten, geht Toxic Positivity in die entgegengesetzte Richtung. Sie überdeckt das Negative mit einer Schicht künstlicher Positivität. Beides ist Ausdruck desselben menschlichen Bedürfnisses: mit Unsicherheit, Emotionen und Komplexität umzugehen. Nur die Strategien unterscheiden sich.
Toxic Positivity wirkt auf den ersten Blick harmlos. Wer möchte schließlich nicht „positiv denken“ oder „optimistisch bleiben“? Doch wenn das Positive zur Pflicht wird, kann genau das Gegenteil passieren: Authentizität, Vertrauen und Lernfähigkeit gehen verloren.
Was hinter Toxic Positivity steckt
Der Begriff Toxic Positivity kommt aus der Emotionspsychologie und bezeichnet die Überbetonung positiver Emotionen bei gleichzeitiger Abwertung negativer Erfahrungen.
Die Grundannahme lautet: „Wenn ich positiv denke, wird alles gut.“ Das ist an sich nicht falsch. Doch problematisch wird es, wenn negative Emotionen keinen Platz mehr haben dürfen.
Psychologisch betrachtet handelt es sich um eine Form der emotionalen Vermeidung. Unser Gehirn versucht, Schmerz, Enttäuschung oder Angst zu vermeiden, ähnlich wie physische Gefahr. Wenn wir uns in Situationen ohnmächtig fühlen, greifen wir zu „mentalen Schutzstrategien“, um uns besser zu fühlen. Eine davon ist, Probleme umzudeuten oder herunterzuspielen. Kurzfristig reduziert das Stress. Langfristig aber verhindert es, dass wir die Emotion wirklich verarbeiten und daraus lernen.
Toxic Positivity ist also kein Zeichen von Stärke, sondern oft ein Symptom von Überforderung. Sie entsteht besonders in Kulturen, die Leistung, Kontrolle oder Harmonie hoch bewerten, also genau dort, wo unangenehme Gefühle als „unproduktiv“ gelten.
Wie sich Toxic Positivity in Teams zeigt
In Teams entsteht Toxic Positivity selten bewusst. Sie schleicht sich ein, oft aus den besten Absichten heraus: Motivation hochhalten, Zuversicht vermitteln, Konflikte vermeiden.
Typische Äußerungen sind:
„Jede Krise ist auch eine Chance.“: Mag stimmen, aber nimmt dem Team den Raum, Frust oder Unsicherheit erst einmal zuzulassen.
„Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen.“: Klingt lösungsorientiert, kann aber als Abwertung wahrgenommen werden, wenn jemand gerade wirklich ringt.
„Immer direkt nach vorne schauen!“: verhindert, dass ein Rückschlag reflektiert und verarbeitet wird.
„Alles passiert aus einem bestimmten Grund.“: Suggeriert Sinn, wo vielleicht einfach Enttäuschung anerkannt werden müsste.
„Das wird schon, einfach positiv bleiben!“: Klingt unterstützend, kann aber Druck erzeugen, Emotionen nicht zeigen zu dürfen.
Gerade in leistungsorientierten oder „harmoniebedachten“ Teams entstehen so subtile Kommunikationsmuster: Schwierigkeiten werden umgedeutet, Konflikte geglättet, und echte Gefühle weichen einem Dauerlächeln. Kurzfristig wirkt das stabilisierend, langfristig aber schwächt es Vertrauen und Lernfähigkeit.
Dauerbelastung oder Krisen: niemand will „die Stimmung verderben“.
Harmonieorientierte Führung: Konflikte werden umgedeutet oder verschoben.
Leistungsdruck: nur positive Ergebnisse gelten als Erfolg.
Das führt zu subtilen, aber wirksamen Mustern:
In Meetings werden Probleme sofort relativiert („Das war halt Pech.“).
Negative Emotionen gelten als unprofessionell („Reiß dich zusammen.“).
Mitarbeitende, die Schwierigkeiten ansprechen, fühlen sich schnell als „zu kritisch“ oder „nicht lösungsorientiert“.
Das Ergebnis: Emotionale Echtheit verschwindet. Menschen beginnen, ihre wahren Gedanken und Gefühle zurückzuhalten. Das senkt Vertrauen, psychologische Sicherheit und schließlich auch Motivation.
Besonders kritisch wird es, wenn Führungskräfte selbst Teil dieses Musters sind, etwa indem sie stets betonen, „alles sei im grünen Bereich“, obwohl Spannungen längst spürbar sind. Die Folge ist eine Diskrepanz zwischen erlebter Realität und kommunizierter Fassade. Und genau diese Diskrepanz untergräbt die Glaubwürdigkeit von Führung.
Warum zu viel Positivität schadet
In der Positiven Psychologie (z. B. Barbara Fredrickson, Sonja Lyubomirsky) wird betont, dass positive Emotionen unsere Wahrnehmung erweitern, Kreativität fördern und Resilienz stärken. Das stimmt, aber nur, wenn sie echt sind.
Erzwungene Positivität hat den gegenteiligen Effekt:
Sie unterdrückt Emotionen, statt sie zu regulieren.
Sie verhindert Lernen, weil unangenehme Erfahrungen nicht reflektiert werden.
Sie erzeugt innere Dissonanz: Das äußere Lächeln passt nicht zum inneren Erleben.
Langfristig kann das zu emotionaler Erschöpfung führen. Menschen, die ständig „positiv bleiben“ müssen, fühlen sich innerlich leer oder abgeschnitten.
Gerade in Teams, die eigentlich eine offene Kommunikationskultur anstreben, entsteht so eine gefährliche Illusion: Alles scheint harmonisch, bis die unausgesprochenen Konflikte plötzlich aufbrechen.
Gesunde Positivität: Realistisch, empathisch und zugewandt
„Unangenehme Emotionen sind keine Feinde, die wir bekämpfen müssen. Sie sind Signale, die wir verstehen sollten.“ Susan David, Emotionale Beweglichkeit
Das Gegenstück zu Toxic Positivity ist authentische, realistische Zuversicht.
Sie basiert auf der Fähigkeit, beides zu halten: das Schwierige und das Hoffnungsvolle.
In der Emotionspsychologie spricht man von emotionaler Agilität. Sie beschreibt die Fähigkeit, Emotionen anzuerkennen, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen, also Gefühle wahrnehmen, benennen und konstruktiv nutzen.
Diese Art von Kommunikation ist ehrlich, klar und stärkt die Verbindung im Team.
Sie schafft psychologische Sicherheit, weil sie zeigt: Alle Emotionen dürfen da sein.
Warum Balance entscheidend ist
Negativity Bias und Toxic Positivity sind keine Gegensätze, sondern zwei Extreme derselben Skala. Beide führen weg von der Realität. Der eine ins Defizit, der andere in die Illusion.
Gesunde Teamkulturen bewegen sich dazwischen: Sie erkennen Fehler an, ohne sich darin zu verlieren, und sie würdigen Fortschritt, ohne ihn zu glorifizieren.
Diese Balance herzustellen ist kein Zufall, sondern Führungsarbeit. Sie entsteht durch bewusste Sprache, durch Räume für ehrliche Reflexion und durch Rituale, die Wachstum statt Perfektion in den Mittelpunkt stellen.
Wenn du spürst, dass du diese Balance in deinem Team oder deiner Führungspraxis weiterentwickeln möchtest, kann ein Coaching dir helfen, neue Perspektiven zu gewinnen und passende Schritte zu gestalten.
Und falls du dich selbst erstmal intensiver mit den Themen beschäftigen möchtest, kann ich dir folgende Bücher empfehlen:
Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken
Susan David: Emotionale Beweglichkeit
Eva Illouz: Das Glücksdiktat

Ich freue mich, wenn du dir einen Impuls aus diesem Artikel mitnimmst und vielleicht sogar mit deinem Team ausprobierst.
Herzliche Grüße, Larissa


